Vastus Medialis Obluquus - Verlieren wir uns im Detail oder vergessen wir die Feinheiten?
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- 18. März
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VMO, „The Key to the Knee“ – Müssen wir diese Tür überhaupt (noch) öffnen?

1. Worum geht's?
„Bei dieser Übung versuchen wir, den inneren Anteil des Kniestreckers besonders zu trainieren. Wenn die Kniescheibe nicht richtig 'läuft', sag ich mal, kann das daran liegen, dass der Muskel nicht richtig aktiv ist.“ - So oder so ähnlich können die Erklärungen klingen, wenn wir versuchen, einen Teil des M. quadriceps femoris bei einer Kraftübung, z.B. der Beinpresse, zu fokussieren.
Ein biomechanischer Ansatz, den vielleicht einige KollegInnen kennen oder auch in die eigene Therapie integrieren. Als ich diesen Satz bei einem Kollegen erneut höre, stellt sich mir die Frage: Wie viel ist an dem Ansatz „Fokussierung Vastus medialis“ eigentlich dran?
Bei dem Muskel bzw. dem Muskelteil der hier häufig im Fokus steht, handelt es sich um den medialen Anteil des M. quadriceps femoris. Dieser kann in zwei Teile untergliedert werden, wobei in diesem Kontext der distale Anteil, der Vastus medialis obliquus (VMO) (im Gegensatz zum Vastus medialis longus), im Zentrum der Diskussion steht.
Bereits 2009 veröffentlichten Smith et al. eine Übersichtsarbeit, in der zunächst die Existenz dieser separaten Muskelpartien diskutiert wurde. Neben primär anatomischen Merkmalen (z.B. das Vorhandensein einer fibrofaszialen Ebene oder die Ausrichtung der Fasern) wurde auch die separate Innervation der Anteile diskutiert.
Für unsere Fragestellung ein relevanter Aspekt, da eine verstärkte Aktivität des Vastus medialis obliquus doch eine Differenzierung der neuronalen Versorgung zwischen den verschiedenen Anteilen voraussetzen müsste. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Differenzierung im Faserverlauf zwar ausreichend belegt ist, eine separate neuronale Versorgung des distalen Anteils des Vastus medialis (VM), nicht ausreichend belegt ist.
Insgesamt bezeichnen sie die Evidenz für die Existenz zweier Anteile des VM als unzureichend. In aktuelleren Übersichtsarbeiten zum Aufbau des M. quadriceps femoris wird die Existenz des VMO jedoch nicht hinterfragt (Abelleyra et al., 2023). Rajput et al. (2017) gehen noch einen Schritt weiter und unterteilen den VMO in zwei weitere Teile, VMO superior und VMO inferior.
Für den weiteren Verlauf dieser Diskussion sollen daher Arbeiten berücksichtigt werden, die sich mit der Relevanz des Vastus medialis obliquus beziehungsweise allgemeiner des Vastus medialis im Vergleich zu den anderen Teilen des M. quadriceps femoris beschäftigen.

Zurück zum praktischen Beispiel
Zurück zu unserem Praxisbeispiel, stellen wir uns wieder der Frage, ob die Aktivität von VM/VMO einen Einfluss auf unsere Therapiegestaltung haben könnte und wie ich diese möglichst positiv beeinflussen kann. Das diese Muskelteile, bzw. allgemeiner der M. quadriceps femoris, bei verschiedenen Pathologien des Kniegelenks bedeutsam sind scheint zunächst naheliegend.
Auch aktuelle Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass sowohl bei PatientInnen mit patellofemoralem Schmerz (Kastinion et al., 2021), Patella-Instabilität (Flores et al., 2023) sowie mit patellofemoraler Arthrose (Siqueira et al., 2022) eine reduzierte Muskelkraft und -masse des M. quadriceps gegenüber beschwerdefreien ProbandInnen vorliegt. Eine explizite Unterteilung in die verschiedenen Anteile ist bei Kastinion et al. (2021) zu finden, ihre Primärquellen berichten teilweise über eine stärker ausgeprägte Reduktion der Muskelmasse des VMO gegenüber dem lateralen Anteil des M. quadriceps femoris (Vastus lateralis) bei PatientInnen mit patellofemoralen Schmerzen.
Ein solches Ungleichgewicht wird auch als möglicher Pathomechanismus für Instabilitäten der Kniescheibe diskutiert (Ashnagar et al., 2021). Ein Review aus demselben Jahr kommt jedoch, aufgrund verschiedener Messmethoden und einer dadurch eingeschränkten Vergleichbarkeit der einzelnen Studienergebnisse, zu keinem abschließenden Ergebnis hinsichtlich der Muskelmasse der (einzelnen) Teile des M. quadriceps femoris (Ashnagar et al., 2021).
Im Rahmen der Diskussion um die Bedeutung einer reduzierten Muskelmasse- oder Kraft als relevanten Faktor, zum Beispiel bei der Pathogenese des patellofemoralen Schmerzes, soll hier kurz auf die Frage nach Ursache oder Folge eingegangen werden. Kastinion et al. (2021) weisen darauf hin, dass das Vorliegen von möglichen Muskeldysbalancen innerhalb des M. quadriceps femoris sowohl Ursache als auch Folge der eigentlichen Pathologie sein könnten.
Wenn eine Dysbalance als Folge auftritt, würde eine Beseitigung ebendieser nicht die Erkrankung selbst beseitigen. Schließlich entsteht die Dysbalance erst in Folge der Pathologie und löst diese nicht aus. Die AutorInnen betonen daher die besondere Bedeutung von prospektiven Studien für eine solche Fragestellung.

Den VMO gezielt trainieren?
Wenn wir nun versuchen sollten ein eventuell vorhandenes Ungleichgewicht zu reduzieren, wie können einzelne Teile des M. quadriceps femoris durch „spezielle“ Übungen akzentuiert werden? Malone und Kollegen (2002) beschäftigten sich in ihrer Übersichtsarbeit bereits vor mehr als 20 Jahren mit der Frage nach einer verstärkten Aktivierung des VMO bei „speziellen“ Übungsvarianten. Beispielsweise wurde eine verstärkte Adduktion des Hüftgelenks in ihren untersuchten Arbeiten für eine erhöhte Aktivität des VMO diskutiert.
Diese Aktivitätssteigerung sei jedoch nicht ausreichend, um relevante Anpassungen zu erzielen. Insgesamt schätzen die Autoren die Idee der Akzentuierung von Übungen zugunsten des VMO als hinfällig ein. Auch Smith et al. (2009) fassten in ihrer Übersichtsarbeit verschiedene Arbeiten zusammen, die die elektromyografisch gemessene Aktivität des VMO bei unterschiedlichen Positionen der Hüft-, Knie- und Sprunggelenke bei gleichzeitiger Streckung des Kniegelenks untersuchten.
Die Konstellation Kniestreckung plus Hüftadduktion, Außenrotation Tibia oder Pronation Sprunggelenk (jeweils eine Studie) konnten eine höhere Aktivität des VMO gegenüber dem VML feststellen. Die übrigen 17 untersuchten Arbeiten dieses Reviews stellten bei diesen und anderen Variationen jedoch keinen statistisch signifikanten Unterschied fest. Insgesamt sehen die AutorInnen keinen ausreichenden Beweis für die Überlegenheit bestimmter Übungsausführungen.
Zusammenfassend scheint die Möglichkeit der Akzentuierung des VMO bisher nicht ausreichend belegt zu sein.
An dieser Stelle ließe sich noch die Frage nach der Sinnhaftigkeit möglicher Übungsvarianten stellen, wenn diese nicht mit alltags- oder sportartspezifischen Bewegungen vergleichbar sind, die für das klinische Bild relevant sind. Eine Kraftsteigerung bei einer bestimmten Zielbewegung kann höher ausfallen, je ähnlicher die Trainingsbewegung der Zielübung ist (Saeterbakken et al., 2019). Dieser Aspekt des motorischen Lernens könnte in unserem Praxisbeispiel, z.B. patellofemoraler Schmerz mit dem klinischen Beschwerdebild “Schmerzen beim Treppengehen“, auch dadurch relevant sein, dass neben Muskelmasse und -kraft auch Veränderungen der chronologischen Reihenfolge der Aktivierung der einzelnen Anteile des M. quadriceps femoris diskutiert werden (Fagan & Delahunt, 2008). Für unser Praxisbeispiel stellt sich also die Frage, ob die Übung Kniestreckung mit isometrischer Hüftadduktion, laut einer von Smith et al. (2009) untersuchten Arbeit mit mehr Aktivität des VMO verbunden, einen relevanten Vorteil für die symptomatische Alltagsbewegung Treppensteigen mit sich bringt. Wenn wir diesen Gedanken weiterführen, müssten PatientInnen dann auch versuchen, beim Treppensteigen eine vermehrte isometrische Spannung der Hüftadduktoren aufzubauen?
Wenn bei einer speziellen Übung der VMO akzentuiert wird, kann ich dann davon ausgehen, dass sich beim Treppensteigen die zeitliche Abfolge der Aktivierung verbessert?

Seit der Veröffentlichung der beiden Übersichtsarbeiten von Smith et al. (2009) und Malone et al. (2002) zur Akzentuierung von VMO oder VM sind nun schon gute 15 Jahre vergangen. Wenn also in den frühen bis späten 00er Jahren keine ausreichenden Beweise trotz vorhandener Untersuchungen vorgelegt werden konnten, können wir dann das Konzept „VMO/VM-Training bei patellofemoralen Schmerzen/Patella-Instabilität“ als alten Hut und Mythos abschließen?
Hierzu werfen wir einen Blick in möglichst aktuelle Empfehlungen zur Behandlung von patellofemoralen Schmerzen. Grundsätzlich wird Krafttraining für den M. quadriceps femoris von Crossley et al. (2019) und Willy et al. (2019) bei patellofemoralem Schmerz empfohlen. Willy und KollegInnen (2019) geben keine Empfehlung dahingehend, ob einzelne Teile des Muskels besonders relevant sind oder fokussiert werden sollten.
Crossley et al. (2019) sprechen sich jedoch explizit gegen den Ansatz der VMO-Fokussierung aus. Zwar könne ein allgemeines Training des M. quadriceps femoris das Aktivierungsmuster zwischen VMO und VL positiv beeinflussen, eine Isolation einzelner Muskelteile sei jedoch nicht möglich. Vielmehr wird die Trainingstherapie so allgemein empfohlen, dass der Fokus auf Übungen zur Kräftigung der knie- und hüftumgebenden Muskulatur liegt. Auch Wallis und KollegInnen (2021) sprechen sich für ein grundlegendes Trainingsprogramm der knie- und hüftbewegenden Muskelgruppen aus, ohne explizit auf VMO oder VM einzugehen. Bei der Behandlung von Patella-Instabilität wird eine VMO-Fokussierung im Rahmen der Trainingstherapie diskutiert, allerdings scheint hierdurch kein klinisch relevanter Effekt gegenüber einem allgemeinen Krafttraining des M. quadriceps femoris feststellbar zu sein (Flores et al., 2023).
Fazit:
Zusammenfassend scheint eine Fokussierung auf einzelne Teile des M. quadriceps femoris bei den angesprochenen Diagnosen keine relevante Bedeutung in der Bewegungstherapie mit sich zu bringen. An diesem Ansatz kann vor allem eine nicht ausreichende Evidenz für die Isolierbarkeit der einzelnen Muskelteile, möglicherweise ein reduzierter Transfer auf problematische Alltagsaktivitäten und, um die Diskussion „abzukürzen“, schlichtweg die fehlende Empfehlung für einen solchen Ansatz in verschiedenen Leitlinien, kritisiert werden.

Autor: Jan Frankenstein
- tätig als Sport-/Bewegungstherapeut (DVGS) in einer ambulaten Rehabilitationseinrichtung mit Schwerpunkt Orthopädie/Traumatologie
- M. Sc., Interdisziplinäre Schmerztherapie
- Fahrrad-Enthusiast
"Egal ob Ergo-, Sport- oder Physiotherapeut*in, in vielen (therapeutischen) Bereichen werden wir mit falschen Mythen konfrontiert. Um diesen adäquat begegnen zu können, benötigen wir sowohl evidenzbasierte Fortbildungen als auch die Kompetenz, Mythen kritisch zu überprüfen und als solche erkennen zu können."
Literaturverzeichnis
Abelleyra Lastoria, D. A., Benny, C. K. & Hing, C. B. (2023). The effect of quadriceps anatomical factors on patellar stability: A systematic review. The Knee, 41, 29–37. https://doi.org/10.1016/j.knee.2022.12.015
Ashnagar, Z., Hadian, M.‑R., Sajjadi, E., Kajbafvala, M., Olyaei, G., Pashazadeh, F. & Rezasoltani, A. (2021). Quadriceps architecture in individuals with patellofemoral pain: A systematic review. Journal of Bodywork and Movement Therapies, 25, 248–254. https://doi.org/10.1016/j.jbmt.2020.08.007
Crossley, K. M., van Middelkoop, M., Barton, C. J. & Culvenor, A. G. (2019). Rethinking patellofemoral pain: Prevention, management and long-term consequences. Best practice & research. Clinical rheumatology, 33(1), 48–65. https://doi.org/10.1016/j.berh.2019.02.004
Fagan, V. & Delahunt, E. (2008). Patellofemoral pain syndrome: a review on the associated neuromuscular deficits and current treatment options. British Journal of Sports Medicine, 42(10), 489–495. https://doi.org/10.1136/bjsm.2008.046623
Flores, G. W., Oliveira, D. F. de, Ramos, A. P. S., Sanada, L. S., Migliorini, F., Maffulli, N. & Okubo, R. (2023). Conservative management following patellar dislocation: a level I systematic review. Journal of orthopaedic surgery and research, 18(1), 393. https://doi.org/10.1186/s13018-023-03867-6
Giles, L. S., Webster, K. E., McClelland, J. A. & Cook, J. (2013). Does quadriceps atrophy exist in individuals with patellofemoral pain? A systematic literature review with meta-analysis. The Journal of orthopaedic and sports physical therapy, 43(11), 766–776. https://doi.org/10.2519/jospt.2013.4833
Kasitinon, D., Li, W.‑X., Wang, E. X. S. & Fredericson, M. (2021). Physical Examination and Patellofemoral Pain Syndrome: an Updated Review. Current reviews in musculoskeletal medicine, 14(6), 406–412. https://doi.org/10.1007/s12178-021-09730-7
Malone, T., Davies, G. & Walsh, W. M. (2002). Muscular control of the patella. Clinics in sports medicine, 21(3), 349–362. https://doi.org/10.1016/s0278-5919(02)00014-5
Rajput, H. B., Rajani, S. J. & Vaniya, V. H. (2017). Variation in Morphometry of Vastus Medialis Muscle. Journal of clinical and diagnostic research : JCDR, 11(9), AC01-AC04. https://doi.org/10.7860/JCDR/2017/29162.10527
Saeterbakken, A. H., Olsen, A., Behm, D. G., Bardstu, H. B. & Andersen, V. (2019). The short- and long-term effects of resistance training with different stability requirements. PloS one, 14(4), e0214302. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0214302
Siqueira, M. S., Souto, L. R., Martinez, A. F., Serrão, F. V. & Noronha, M. de (2022). Muscle activation, strength, and volume in people with patellofemoral osteoarthritis: a systematic review and meta-analysis. Osteoarthritis and cartilage, 30(7), 935–944. https://doi.org/10.1016/j.joca.2022.01.013
Smith, T. O [T. O.], Nichols, R., Harle, D. & Donell, S. T [S. T.] (2009). Do the vastus medialis obliquus and vastus medialis longus really exist? A systematic review. Clinical anatomy (New York, N.Y.), 22(2), 183–199. https://doi.org/10.1002/ca.20737
Smith, T. O [Toby O.], Bowyer, D., Dixon, J., Stephenson, R., Chester, R. & Donell, S. T [Simon T.] (2009). Can vastus medialis oblique be preferentially activated? A systematic review of electromyographic studies. Physiotherapy theory and practice, 25(2), 69–98. https://doi.org/10.1080/09593980802686953
Wallis, J. A., Roddy, L., Bottrell, J., Parslow, S. & Taylor, N. F. (2021). A Systematic Review of Clinical Practice Guidelines for Physical Therapist Management of Patellofemoral Pain. Physical therapy, 101(3). https://doi.org/10.1093/ptj/pzab021
Willy, R. W., Hoglund, L. T., Barton, C. J., Bolgla, L. A., Scalzitti, D. A., Logerstedt, D. S., Lynch, A. D., Snyder-Mackler, L. & McDonough, C. M. (2019). Patellofemoral Pain. The Journal of orthopaedic and sports physical therapy, 49(9), CPG1-CPG95. https://doi.org/10.2519/jospt.2019.0302
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